Bearbeiterin: Pascale Roure
Das Vorhaben untersucht die akademischen Austauschbeziehungen zwischen Deutschland und der Türkei nach dem Ende des Osmanischen Reiches und die daraus entstandene Rezeption der deutschen Philosophie an der Universität Istanbul zwischen 1933 und 1960. Im Zusammenhang mit den Modernisierungsdiskursen der jungen türkischen Republik soll der Umgang mit konkurrierenden Paradigmen sichtbar gemacht werden, die sich in der Zeit der Weimarer Republik aus der kritischen Auseinandersetzungen mit dem Neukantianismus entwickelt haben. Parallel zu kritischen Erneuerungsversuchen der erkenntniskritischen Tradition, die an der Universität Istanbul durch exilierte Philosophieprofessoren wie Hans Reichenbach (1891-1953) zwischen 1933-1938 und Ernst von Aster (1880-1948) zwischen 1936-1948 vertreten waren, wurden jene Paradigmen stark rezipiert, die schon in den 1920er Jahren an deutschen Universitäten als Gegenreaktion auf die positivistische Erkenntnistheorie und den logischen Empirismus entwickelt wurden, nämlich die „neue Ontologie“ Nicolai Hartmanns (1882-1950) und die philosophische Anthropologie Max Schelers (1874-1928). Die erste Generation von promovierten Dozenten ab 1939, die überwiegend in Deutschland studiert hatte, spielte dabei eine zentrale Rolle, da sie ihre Kontakte mit deutschen Philosophieprofessoren aus dem Kreis von Nicolai Hartmann pflegte, welche infolgedessen in den 1950er Jahren an der Universität Istanbul zu lehren begannen. Dadurch wurden in der Nachkriegszeit bis ca. 1960 auch die akademischen Austauschbeziehungen mit deutschen Universitäten verstärkt, insbesondere mit den Universitäten Heidelberg und Tübingen, wo auch die zweite Generation von türkischen Dozenten während ihrer Deutschlandaufenthalte studierte.
Vor diesem Hintergrund fragt das Projekt, ob Istanbul ab 1933 der privilegierte Ort eines theoretischen Dialogs zwischen exilierten und nicht-exilierten Universitätsphilosophen gewesen ist und ggf. was die Berührung entgegengesetzter Paradigmata und Ansätze der deutschen Philosophie für die Entwicklung der türkischen Universitätsphilosophie im 20. Jahrhundert hervorgebracht hat. Welche Rolle haben dabei die politischen und diplomatischen Rahmenbedingungen in der Türkei und in Deutschland gespielt? Inwiefern hat die institutionalisierte Rezeption der deutschen Philosophie nach 1933 die Matrix für die Ausarbeitung einer selbsternannten modernen Philosophie geboten, die in der Türkei als Ersatz für die abgewerteten traditionellen Auffassungen von Philosophie wie Metaphysik und Islamphilosophie gelten sollte? Kann man angesichts der, in Fachzeitschriften, Unterrichtscurricula und Übersetzungsarbeiten dokumentierten Auffassung der Philosophie tatsächlich von einer Modernisierung sprechen?
Anhand dieser Leitfragen versucht das Vorhaben, die Aneignung und Übersetzung unterschiedlicher Paradigmen der deutschen Universitätsphilosophie im Zusammenhang mit der säkularen Erneuerung der Metaphysik in der Türkei zu analysieren. Das Vorhaben gliedert sich chronologisch in drei Abschnitte, die der Präsidentschaften von Mustafa Kemal (bis 1938), Ismet Inönü (1938-1950) und Adnan Menderes (1950-1960) entsprechen und die Aufeinanderfolge von akademischen Generationen an der Felsefe Bölümü der Universität Istanbul abbilden.